Dan Ariely: «Die Mehrheit schummelt ein bisschen» | NZZ (2024)

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Dan Ariely ist Verhaltensökonom und hat in unzähligen Experimenten untersucht, wie oft und unter welchen Bedingungen die Leute lügen. Sein Rat ist bei Regierungen und Unternehmen gefragt

Daniel Hug

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Dan Ariely: «Die Mehrheit schummelt ein bisschen» | NZZ (1)

NZZ am Sonntag: Wann haben Sie zum letzten Mal geschummelt?

Dan Ariely: Lassen Sie mich überlegen - gestern oder heute? Ich habe heute Morgen gelogen. Wissen Sie, ich erhalte jeden Tag eine Anfrage, irgendwo eine Rede zu halten oder Fragen zu beantworten. Heute Morgen kam wieder so eine Anfrage, und ich antwortete, ich sei nicht mehr in der Stadt. Ich gab die Antwort, bevor ich in meine Agenda schaute. Es war eine einfache Ausrede, um etwas nicht tun zu müssen. Das ist nicht sehr schädlich, aber die Ausrede war eine Lüge.

Sie haben Dutzende von Experimenten gemacht, um herauszufinden, wie, wann und weshalb wir andere Leute täuschen. Wie lautet Ihr Befund?

Wir haben rund 30000 Leute getestet, und nur ganz wenige waren echte Schwindler. Aber etwa 18000 der Probanden haben bei den Aufgaben stets ein bisschen geschummelt. Sie verfolgten zwei Ziele: Sie schummelten ein wenig beim Lösen der Aufgaben, um mehr Geld zu erhalten. Gleichzeitig wollten sie ihr Selbstbild als ehrliche, wahrhaftige Person aufrechterhalten. Das hat sie davon abgehalten, mehr zu schummeln.

Wo sind die Folgen des Schwindelns sehr schädlich?

Etwas vom Schädlichsten ist Lügen in der Öffentlichkeit, weil dies das Vertrauen in soziale Institutionen untergräbt. Erinnern Sie sich an die zehn Gebote? Wissen Sie noch, wie das achte oder neunte Gebot über die Ehrlichkeit lautet?

Du sollst nicht lügen?

Das dachte ich auch, aber es heisst: «Du sollst kein falsches Zeugnis von Dir geben.» Ich habe mich mit vielen Leuten darüber unterhalten, warum es nicht einfach «Du sollst nicht lügen» heisst. Das Gebot ist sehr weise formuliert. «Falsches Zeugnis ablegen» hat zwei Aspekte: Es ist eine Lüge in der Öffentlichkeit, und es erodiert das Vertrauen in öffentliche Institutionen. Wenn Sie Ihrer Frau sagen, sie sehe besser aus, als dies der Fall ist, handelt es sich um eine private Lüge. Das ist nicht weiter beunruhigend. Eine öffentliche Lüge, die das Vertrauen untergräbt, muss man sehr viel ernster nehmen. Vertrauen ist ein öffentliches Gut. Moderne Errungenschaften wie abstraktes Geld und Banken sind ohne Vertrauen nicht denkbar.

Frankreichs Budget-Minister Jérôme Cahuzac, der für das Eintreiben der Steuern verantwortlich ist, musste kürzlich zugeben, ein Bankkonto in der Schweiz zu haben, das er später nach Singapur transferierte. Zuvor hatte er stets abgestritten, ein solches Konto zu haben - auch vor dem Parlament. Wie wirkt das auf die Menschen?

Es führt dazu, dass das Vertrauen in der Gesellschaft weiter ausgehöhlt wird. Unsere Erfahrung zeigt, dass die Leute bei den Steuern nicht so stark lügen, wie sie potenziell könnten - auch wenn es dabei alle Arten von Schummeleien gibt. Wenn sich jeder perfekt egoistisch verhalten würde, wären die Steuereinnahmen in den meisten Ländern viel geringer als heute. Die Höhe der Einnahmen belegt aber, dass die Leute häufig einen guten Willen haben und an mehr als bloss ihren Eigennutz denken. Wenn der Chefbeamte im Finanzministerium unversteuertes Geld versteckt, untergräbt das den guten Willen.

Sie schreiben, Banker seien vor der Finanzkrise blind gewesen für die Risiken von hypothekengesicherten Wertpapieren, der hohe Bonus habe ihre Wahrnehmung korrumpiert. Wie lässt sich das in Zukunft vermeiden?

So, wie Banker heute bezahlt werden, sind sie einem starken Interessenkonflikt ausgesetzt - zwischen Optimierung des eigenen Bonus und dem Nutzen für den Kunden. Wenn wir Banker wie Richter entlöhnen würden, nämlich mit einem festen Gehalt, könnte der Interessenkonflikt vermieden werden. Die Komplexität und Abstraktheit der derivativen Finanzprodukte, weit weg von realem Geld, erhöhen zudem den Anreiz zum Schummeln. Im Bankwesen gibt es viele versteckte Möglichkeiten, um Kunden zu belasten. Ich glaube nicht, dass Banker schlechte Leute sind. Wenn wir aus Ihnen einen Banker machen würden, und Sie sich während eines Jahres nur unter Bankern bewegten, würden Sie sich gleich verhalten. Schummeln und Betrügen kommt oft in Gestalt der Selbsttäuschung daher. Man schraubt etwas an den Margen, an den verborgenen Skalen, das ist nicht vollkommen illegal.

Wie etwa bei der Manipulation der Libor-Leitzinsen?

Ja, man manipuliert etwas, aber nicht zu stark. Oder man schraubt an den Gebühren und Kommissionen. Ich glaube, der Regulator schiesst am Ziel vorbei: Er zielt vor allem auf den Psychopathen, der stets seinen Eigennutz maximiert - und setzt darum auf Bestrafung und Transparenz. Aber es gibt keine Evidenz, dass das wirkt.

Was ist Ihr Ratschlag?

Ich glaube, im Bankwesen brauchen wir eine Art Vergebung. Wir haben eine Vertrauenskrise.

Immerhin bringen die Leute ihr Geld noch auf die Bank . . .

. . . aber nicht mehr so viel wie früher. Die Leute misstrauen der Börse und den Aktien - und bevorzugen Bargeld, Häuser, Gold. Mit gravierenden Folgen: Viele Leute über 50, die in der Finanzkrise aus den Aktien ausstiegen, verloren viel Geld. Sie profitierten nicht von der Erholung, und sie werden viel zu wenig Erträge haben, um ihre Pension zu finanzieren. Bei 0% Sparzins stehen die Chancen schlecht, während der restlichen Arbeitsjahre genug Geld sparen zu können. Für die Normalverdiener ist es wichtig, dass das Vertrauen in den Markt wiederhergestellt wird. Dazu wäre eine Entschuldigung der Banker angebracht - kaum zu glauben, dass das bisher nicht passiert ist. Ferner braucht es eine andere Führung, andere Lohnsysteme, versteckte Kommissionen und Interessenkonflikte müssen eliminiert werden.

Sie haben in einem Experiment belegt, dass Leute, die gefälschte Markenprodukte tragen, eher zum Schummeln neigen. Woran liegt das?

Dieser Effekt ist nicht bei allen Produkten zu beobachten, sicher aber bei einer gefälschten Uhr: Sie hat symbolischen Wert, Sie tragen sie täglich und schauen immer wieder auf ihr Zifferblatt. Wir verknüpfen das gefälschte Produkt mit der Art und Weise, wie wir über uns selber denken. Wenn Sie sich selbst als nicht integre Person sehen, fällt es leichter, die nächste Stufe des Schummelns zu nehmen. Stellen Sie sich vor, Sie seien auf Diät. Sie futtern aber schon am Morgen einen Muffin.

Was passiert dann beim Mittagessen?

Sie werden sich sagen: Heute bin ich nicht auf Diät. Also genehmigen Sie sich noch ein Dessert. Wir können zu 92% gut sein und uns insgesamt immer noch für gut halten. Bei 67% wird es aber schon schwieriger. Sie begeben sich auf eine rutschige Bahn, und Sie werden die nächste Gelegenheit zum Schummeln rascher ergreifen. Es ist, wie wenn Sie am Morgen alle Lügen aufzählen müssten, die Sie in Ihrem Leben aufgetischt haben. Dann haben Sie ein schlechtes Bild von sich selbst - und lügen wird einfach ein Teil dessen, was Sie tun.

Wie würde man das in Hongkong sehen?

Wenn Sie in Hongkong leben, wo gefälschte Produkte kein soziales Stigma bedeuten, spielt es keine Rolle, weil Kopien von Markenartikeln von den Leuten akzeptiert sind.

Versicherungen erleben oft, dass die Leute nach einem Diebstahl den Wert der gestohlenen Ware nach oben frisieren. Sie haben belegt, dass die Leute ehrlicher deklarieren, wenn sie am Anfang des Formulars unterschreiben müssen. Darum haben Sie eine Umgestaltung angeregt. Warum sind die Versicherer nicht auf den Rat eingegangen?

Versicherungen werden vor allem von Finanzmathematikern geführt. Es ist ihnen nicht so wichtig, wie die Risiken zustande kommen, solange sie zum korrekten Preis in die Rechnung eingehen. Doch wenn einige Leute stets schummeln, bezahlen die aufrichtigen Kunden zu hohe Prämien. Das mag den Versicherungen egal sein, solange ihre Rechnung aufgeht, aber uns als Individuen betrifft das. Darum berate ich weiterhin Versicherungen. Oder auch die britische Regierung: Sie hat ein Büro für Verhaltensökonomie eingerichtet. Wir haben da einige Vorschläge eingebracht, wie man die Formulare im Sozialwesen verbessern kann.

So funktionieren die Experimente

Der Saal in der Universität Zürich war am letzten Mittwoch übervoll: Dan Ariely weilte auf Einladung der Excellence Foundation (initiiert von Prof. Ernst Fehr) in der Schweiz. In freier Rede erklärte er die Ergebnisse seiner jüngsten Forschung (Dan Ariely: Die halbe Wahrheit ist die beste Lüge. Droemer, 2012).

In vielen Experimenten testete Ariely , wann Leute lügen. Dazu händigte er den Probanden ein Blatt mit zwanzig Aufgaben aus: Jede Aufgabe bestand aus einer Matrix von 16 Zahlen (z. B. 4.67 und 2.91). Zu suchen waren jeweils zwei Zahlen, die zusammen 10 ergaben. Für jede gelöste Aufgabe gab es einen halben Dollar, doch man gewährte den Leuten nur 5 Minuten Zeit. Am Ende durften die Probanden ihr Blatt durch den Reisswolf lassen und brauchten der Übungsleiterin bloss mitzuteilen, wie viele Aufgaben sie gelöst hatten. Tatsächlich war der Schredder jedoch manipuliert: Er schnitt nur die Seitenränder ab, aber der Inhalt auf den Blättern blieb erhalten. So konnten Ariely und sein Team jeweils ermitteln, wie stark die Leute schummelten. Ergebnis: Die meisten Probanden lösten vier Aufgaben und gaben an, sechs gelöst zu haben.

Dabei war es unerheblich, ob der Geldbetrag pro Lösung tiefer oder höher angesetzt wurde, ebenso wenig wie die zu erwartende Strafe, wenn man erwischt wird. Das herkömmliche Modell, wonach die Menschen jeweils nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip handelten, konnte somit verworfen werden. Dafür wirkten ganz andere Dinge: «Es gab kein Schummeln, wenn sich die Studenten zuvor an die zehn Gebote erinnern mussten. Wobei es egal war, dass sich niemand an die zehn Gebote erinnern konnte - sie erfanden einfach eigene», sagt Ariely .

Wichtig war die Erinnerung an moralische Prinzipien. Positiv wirkte auch ein Gelöbnis oder eine Unterschrift, die zu Beginn des Experiments zu leisten war. Als Faktoren, welche die Unehrlichkeit fördern, erwiesen sich Interessenkonflikte, Kreativität (die Fähigkeit, eine gute Ausrede zu finden), Erschöpfung, ein vorangehender unmoralischer Akt oder eine Kultur, die Beispiele von Unehrlichkeit liefert. (dah.)

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